Ken Wilber und die Systemrelevanz der Kultur

Systemrelevanz Entwicklungsstufen
Verschiedene Alter, verschiedene Entwicklungsstufen, verschiedene Bewusstseinszustände

Wo beginnt die Systemrelevanz oder eher Mensch-Relevanz in der Kultur?

Heute morgen fing ich nach längerer Pause wieder an, an meinem Buch zu arbeiten. Ich startete damit, das Kapitel über das Integrale Modell von Ken Wilber zu überarbeiten, um wieder in den Fluss des Buches zu finden. Ein Teil war bisher nur angedacht und ich fing an ihn auszuarbeiten.

Es ging dabei um die drei Stufen der Entwicklung, die er präkonventionell – konventionell – postkonventionell nennt.

Systemrelevanz Entwicklungsstufen
Verschiedene Alter, verschiedene Entwicklungsstufen, verschiedene Bewusstseinszustände

Wenn die drei Begriffe hier so stehen, sieht es erst einmal recht abstrakt aus, auch ich konnte mir nicht so richtig etwas darunter vorstellen. Aber dann fing meine Inspiration an, diese Entwicklungsstufen auf die Musik, auf die Kultur überhaupt zu übertragen. Und ich kam in einen Schreib-Flow, den ich hier gern mit euch teilen möchte.

Die drei Stufen oder Ebenen in Ken Wilbers integralen Modell und die Systemrelevanz

Erste Stufe: präkonventionell – egoistisch

Wilber teilt die Entwicklung in drei Stufen oder Ebenen ein. Befinden wir uns auf der ersten, der präkonventionellen Stufe, handeln wir egoistisch, nach unseren eigenen Bedürfnissen, unserer eigenen Lust entsprechend. Wir sind der Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Das ist eine wichtige Stufe, denn sie bedeutet, dass wir anfangen, uns selbst zu erkennen, unsere Bedürfnisse zu erforschen und ernst zu nehmen. Wir erleben uns als wichtig und bedeutsam. Diese Entwicklungsstufe kennen wir sowohl aus der Kindesentwicklung als aber auch in der Entwicklung, wenn wir uns neue Gebiete des Wissens oder auch im Sport und in der Musik erobern.

Ein Blick in die Welt der Sänger:innen

Wenn wir als Sängerinnen beginnen – und ich wage zu behaupten, dass jede:r Gesangslehrer:in als Sänger:in angefangen hat – dann ist es am Anfang der Spaß an der Musik und der Spaß an uns selbst beim Singen, was im Vordergrund steht. Wir fühlen uns dabei gut, wir erleben uns intensiv, wir spüren die Emotionen der Arie oder des Songs, den wir singen. Die private Emotion, unser privates Leben spiegelt sich in der Musik, in den Rollen, in unserer Stimme. Das kann man sehr gut als egoistisch beschreiben, wir tun es für uns selbst, weil es sich gut anfühlt.

Und ganz wichtig dabei ist mir, dass das keine Wertung in sich enthält.

Es ist wie in der Kindesentwicklung. Dass dies kleine Wesen nur darauf ausgerichtet ist, zu überleben, essen zu bekommen, Liebe, Kontakt und Berührung zu bekommen ist hochgradig egoistisch. Es interessiert sich für seine Bezugspersonen nur in der Form, ob und wie es all das bekommt, was es zum Leben braucht. Mehr kann es noch nicht wahrnehmen und das ist mehr als in Ordnung so. Wir erlauben ihm, seinen ganz eigenen Weg zu gehen, es darf sich entwickeln. Wer Babys an der Stelle Egoismus im Sinn von bewusster Wahrnehmbarkeit und Absicht unterstellen würde, hat das Prinzip von Entwicklung meines Erachtens nicht verstanden.

Und genauso sehe ich es im Singen. Wenn dieser Funke in uns, der uns selbst sich gut fühlen lässt, der uns Spaß macht, der uns erfüllt nicht am Anfang da ist, werden wir nicht singen, wird die Sängerin und der Sänger in uns nicht überleben. Es ist wichtig und eine großartige Phase, wenn wir merken, wie gut es sich anfühlt und was alles in uns zum Schwingen und Klingen gebracht werden kann.

Zweite Stufe: konventionell – ethnozentrisch

Wenn wir uns in diese Ebene hinein entwickeln, stellen wir fest, dass es außer uns noch andere gibt, dass nicht alles eins ist. Dass andere auch andere Bedürfnisse haben als wir. Es gibt noch weiteres in der Welt, was uns beeinflusst und auf das wir Einfluss nehmen können. Wir möchten mit anderen kooperieren. Noch ist die Gruppe innerhalb derer wir diese Erfahrung machen nicht sehr groß. Wir kennen die Menschen, wir haben Gemeinsamkeiten, vielleicht ist es unsere Familie, vielleicht sind es unsere Freunde, später vielleicht die Menschen, die in meinem Land leben.

Ein weiterer Blick in die Gesangswelt

Wenn wir das jetzt auf die Entwicklung als Sänger:in beziehen, können wir sehen, dass wir ähnlich wie das Baby, das sich weiter entwickelt, wir auch als Sänger und Sängerinnen irgendwann über die 1. Ebene hinaus gehen möchten.

Wir tauschen uns mit anderen Sänger:innen aus unserer Gesangsklasse aus, singen miteinander. Und wollen auch mehr mit unserem Publikum interagieren, möchten, dass sie fühlen können, was wir fühlen. Wir lieben es, uns über Musik so ausdrücken, dass das Wunderbare der Musik immer mehr zu hören ist.

Kurz gesagt: wir möchten sie nicht nur mit unserer eigenen Empfindung berühren, die man sehen und hören kann, sondern sie auch mit der Musik berühren, die uns selbst am Herzen liegt. Denn dabei spüren wir nicht nur uns, sondern wir spüren uns durch die Komposition. Und die Komposition liegt uns am Herzen. Was eigentlich wollte der Komponist mit seiner Komposition ausdrücken? Können wir das sehen und haben wir Mittel, um das hörbar zu machen? Wir möchten die Menschen mit dieser wunderbaren Komposition berühren, in der wir aber auch uns selbst ausdrücken. Das bedeutet, wir integrieren die erste Stufe in die zweite.

Und dazu braucht es mehr Verständnis für Tonsprache. Was bedeuten Tonarten, wie wird die Harmonik eingesetzt, was sagt uns die Melodie? Und wir brauchen Technik im Musizieren, so dass wir die Dinge in der Komposition wirklich so vermitteln können, wie wir es gern möchten.

Dritte Stufe: postkonventionell – weltzentrisch

Und schließlich kommen wir zu dem Punkt, den Wilber postkonventionell bzw. weltzentrisch nennt. Wir gehen nun auch über unsere Gruppe hinaus. Es ist nicht nur die Familie, unser Land, unser Publikum, sondern wir spüren, dass alle Menschen ganz universell etwas verbindet. Wir spüren, dass Musik eine universelle Sprache ist. Es gibt so viele Arten von Musik und wir möchten diese tiefe Verbindung über Musik mit dem Menschsein verbinden, möchten die Fähigkeit haben, das auszudrücken und der Welt damit etwas schenken.

Der dritte Blick auf die Stimme und die Gesangswelt

Wir möchten nicht nur uns selbst fühlen beim Singen wie auf der ersten Stufe, auch nicht nur die Komposition unserem Publikum nah bringen wie  auf der zweiten Ebene, sondern wir fühlen uns verbunden mit allem. Unsere eigene Stimme ist zu mehr geworden, als uns ein gutes Gefühl zu vermitteln. Wir kommen auf einer Stufe an, wo das Singen zu einem fast spirituellen Zustand führt, wo wir nicht mehr machen, wo nicht etwas von innen nach außen ausgedrückt wird, sondern wo wir einfach nur im SEIN sind.

Das ist der Zustand, den Sänger:innen immer mal wieder mit den Worten beschreiben: ES singt.

Und das verbunden mit einer stimmlichen Möglichkeit, die ganzen Feinheiten und Nuancen über die Stimme in der Komposition auszudrücken und sich gleichzeitig mit sich und dem Publikum zu verbinden. Die menschliche Magie zu spüren, die entsteht, wenn dieser Prozess gelingt ist wahrhaft weltzentrisch.

Ich würde es sogar als eine Akt der Liebe bezeichnen. Mit meiner Seele zu sein, mit meiner Seele zu musizieren, gleichzeitig mit allem verbunden zu sein, der Intuition zu folgen, zu wissen ohne zu wissen.

Menschen mit der Möglichkeit zu transzendenten Erfahrungen

Ihr merkt schon, diesen Zustand zu beschreiben ist ähnlich schwierig, wie erleuchtete Meister den Zustand von Erleuchtung beschreiben wollen. Es ist ein Zustand, eine Ebene des SEINS, es ist der berühmte Finger, der auf den Mond zeigt, es ist die Landkarte, aber mehr kann mit Worten nicht beschrieben werden.

Aber wir sind als Menschen zu transzendenten Erfahrungen in der Lage. Und das geht in der tiefen Meditation genauso wie im Singen oder im Musizieren überhaupt.

Und es ist ein Weg, der die jeweilige vorherige Stufe mit einschließt. Das finde ich einen sehr wichtigen Aspekt. Es gibt kein Entweder / Oder, kein Das ist besser als Jenes. Alles ist gleichzeitig da und prägt sich verschieden aus. Und es ist die Vielfalt, die sein darf, die ohnehin immer da ist, so wie sie ist. Egal ob wir sie bewerten oder nicht. Ich glaube, dass wir viel eher zum Kern des Wesentlichen durchdringen werden, wenn die Bewertung endlich fallen darf.

Und auch die Bewertung ist wiederum ein Aspekt, der erlaubt ist und in den Prozess gehört. Das hat mich selbst immer wieder verwirrt und ich denke immer mal wieder darüber nach und erreiche neue Stufen der Erkenntnis.

Ausflug in die politische Dimension der Kultur

Deshalb finde ich persönlich auch die Musik oder die Kultur ganz allgemein deutlich mehr als die Sahne auf der Torte.

Musik erlaubt und zeigt uns unser Menschsein, als ausübende Künstler:innen und als Zuhörende und Zusehende.

Denn die Künstler:innen lassen uns an all dem teilhaben. Sie können uns unser wahres Menschsein, die Tiefe unserer Seele aufzeigen. Und das ist ein wesentlicher Aspekt, den Kultur zur Bildung des Menschseins, was einen solchen Namen verdienen würde verdeutlicht.

Für manche mag Musik und Kultur, Stimme, Gesang, Tanz, Poesie, das geschriebene und gesprochene Wort überhaupt nicht systemrelevant sein. Aber für mich ist es sogar mehr als das: es ist Mensch-relevant. Kultur und im besonderen die Musik erlaubt uns, uns mit etwas zu identifizieren, was alle fühlenden Wesen miteinander teilen. Sie schenkt uns die Entfaltung von Körper, Geist und Seele, die große Trinität des Lebens.

Und wenn Frieden in unseren Seelen, in unserem Geist und unserem Körper einkehren darf, vielleicht können wir es dann für möglich halten, dass es Frieden geben kann. Er fängt bei uns und unserer Empfindung und unseren Träumen und Vorstellungen an.

All das findet sich in Kultur und Musik.

Also lasst uns gemeinsam tanzen, musizieren, Bücher schreiben, rezitieren und unsere transzendente Seele ausdrücken. Wir wissen nie, wen alles wir damit erreichen und wer sich anstecken lässt, von unserem Buch, von unserem Lied, von unserem Gedicht, von unserem Tanz. Dem Tanz des Lebens.

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