Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit – gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (so dass ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärts schreiten können), indem ich mich also anschicke, meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung der Schule denn auch gewachsen bin.”
Meine innere Welt, die sich bei Sprache öffnet
Ich liebe Sätze wie diesen. Nicht nur, dass ich bei dem Gedanken eine Feder zu ergreifen eine Menge wunderbarer Bilder im Kopf habe, die ich fast anfassen, riechen, sehen und vor allem spüren kann. Ich höre auch die Feder über das Papier kratzen. Nein, ich habe auch Lust weiter zu lesen, fast atemlos, um dann aber sofort wieder anzuhalten wenn ich das Wort “Muße” lese.
Kurz denke ich darüber nach, was es eigentlich bedeutet, gesund zu sein. Messe ich diesem Zustand so viel Bedeutung bei, dass ich ihn in einem Roman oder Blog-Artikel wert fände, erwähnt zu werden?
Okay, man kann auch müde dabei sein, das kenne ich gut. Darüber habe ich hier schon einen Blog Artikel geschrieben.
Und dann die totale Begeisterung! Da schreibt jemand mit der Hand. Ich liebe es, mit der Hand zu schreiben. Ja, sauber und gefällig ist auch meine Handschrift – schon immer gewesen. Damals in der Schule gab es noch eine Bewertung auf Schönschrift. Die war immer gut bei mir. Obwohl ich immer mal wieder höre: sieht super aus, wie du schreibst, kann man aber leider schwer lesen.
Stimmt – auch ich habe manchmal Mühe, alte Tagebuch-Eintragungen zu entziffern. Mein emotionaler Zustand ist im übrigen sehr gut an meiner Schrift zu erkennen, da muss ich noch kein einziges Wort gelesen haben.
Weiter geht’s mit Geständnissen. Geständnisse? Das wird interessant. Wenn man etwas gestehen muss, war es wohl nicht ganz sauber. Kriminell, unmoralisch, unsittlich, ist es irgendwie peinlich? Das sind doch spannende Fun-Facts würde ich sagen.
Und er schreibt auf Papier. Ich frage mich sofort, auf was für einem Papier hat Thomas Mann eigentlich geschrieben, ach nein, es ist die Roman-Figur. Welches Papier war es wohl? Ich liebe Papier. Besondere Briefe habe ich immer früher auf feinem Bütten-Papier geschrieben. Keine Ahnung, was das ist, aber es fühlte sich so gut an. Als ich mal in einer 6-wöchigen Kur war, habe ich jeden Tag in der vorgeschriebenen Mittagspause zwischen 3 und 4 Briefen geschrieben und entsprechend viele Antworten täglich erhalten. Ich habe mit dieser Nummer für großes Kopfschütteln, aber auch Bewunderung gesorgt. Das war mein Anker, meine Home-base.
Und dann der grandiose Abschluss: bin ich diesem Geistigen! Unterfangen nach der Vorbildung, die ich in der Schule genossen habe überhaupt gewachsen? Wie war Schule damals? Wie ging es mir eigentlich nach Abschluss der Schule? Wozu war ich fähig? Und was ist Schule heute? Das wäre auf alle Fälle ein neuer Blog-Artikel, denn es würde mich in eine ganz andere Richtung führen – oder doch nicht?
Es ist der erste Satz aus dem Roman “Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull” von Thomas Mann. Was für eine Welt. All das ging mir durch Kopf, Gefühl, Bauch, Herz, Gemüt (wunderbares altes Wort).
Wenn es bis hierher noch nicht klar geworden ist: ich liebe Sprache, ich liebe die deutsche Sprache. Ich liebe kunstvolle Sprache, sie öffnet Welten in mir, sie öffnet Welten in der Kommunikation mit anderen. Auch wenn ich fremde Sprachen lerne. Sprache für sich ist eine ganz eigene Welt, wie sie klingt, wie sie aufgebaut ist… Manchmal komme ich aus dem Schwärmen schwer wieder raus.
Bis hier hat der Artikel übrigens schon über 500 Worte. Genauer gesagt: 594 Worte für all meine Empfindungen und Gedanken zu einem einzigen Satz. Wer hätte das gedacht?
Mein Schreiben seit letztem Jahr
Mit vollem Herzblut und all meiner Begeisterung für das Schreiben, die ich seit letztem Jahr unter anderem im Schreibkurs bei Monika und dem Blog-Kurs bei Judith wieder entdeckt habe, schreibe ich an meinem Buch, schreibe Blog-Artikel über die Entstehung des Buches, schreibe Blog-Artikel über mich und viele meiner Gefühle und Gedanken. Ich schreibe Expertinnen-Artikel, ich schreibe und schreibe (allerdings weniger mit Hand und auf Bütten-Papier 😉 ).
Und jetzt kommt YOAST. Ein wirklich hilfreiches Plug-in, wenn wir im Netz gefunden werden wollen. SEO optimiert schreiben und lesbar soll das Ganze auch sein. So weit bin ich d’accord – dachte ich.
Aber Technik ist im Gegensatz zu Sprache nicht unbedingt etwas, mit dem ich leicht umgehen kann. Zeichen und Bilder sind da schon eher meins. Ich schaue auf die Ampel, die YOAST zur Verfügung stellt. Sie erinnert mich gleich an die Lebensmittel-Ampel – stopp – wieder ein anderes Thema.
YOAST, SEO und die Lesbarkeits-Analyse
Also zurück zur Ampel bei YOAST.
Sie zeigt ROT, beide Ampeln zeigen rot. Die für SEO und die für die Lesbarkeit. Ja, SEO muss ich erstmal verstehen, aber mit Lesbarkeit kenn ich mich aus – dachte ich – aber weit gefehlt.
Meine Sätze sind zu lang, sie enthalten mehr als 20 Worte – also bitte Leute, bis zu Thomas Mann ist es noch ein weiter Weg für mich, wo ist das Problem?
Bitte benutze nicht so viele unbekannte Worte – es handelt sich in vielen Fällen um Expertenartikel. Wenn ich über ein Thema schreibe unter der Überschrift: Was ist … ? dann erkläre ich es schließlich. Und Fachworte sind Fachworte. Das weiß man doch !! Nein, die Lesbarkeitsprüfung weiß das anscheinend nicht.
2 mal fangen mehr als vier deiner Sätze hintereinander mit dem gleichen Wort an, das ist schlechter Stil. Bitte ändere das. Nein, das werde ich nicht tun, es handelt sich in einem Fall um Aufzählungen, es handelt sich im anderen Fall um ein Stil-Element, du elender Lesbarkeits-Banause!
Der Flesch-reading-ease liegt bei 40 und drunter. Und wieder bekomme ich als Erklärung, meine Sätze seien zu lang. Man könne das schwer lesen. Ich möge meine Sätze kürzen. Was zur Hölle wollt ihr? Habe ich es mit einer Horde von Leser:innen zu tun, die nicht einmal die erweiterten Grundlagen der deutschen Satzkonstruktion verstehen können? Die nichts kapieren, wenn ich nicht einfach Subjekt-Prädikat-Objekt schreibe und dann Punkt? Schreiben für Lese-Anfänger:innen?
Und dann die Doppelbotschaften: ich möge mehr Konjunktionen, Bindewörter benutzen. Wenn ich das tue, ist es gut und ich werde sehr gelobt: Bindewörter: gut gemacht! Danke, da hab ich also brav das Stöckchen geholt und Herrchen vor die Füße gelegt. Blöderweise habe ich in der Schule gelernt, dass Bindeworte meist einen Nebensatz einleiten. Und schwupps, ist der Satz schon wieder viel zu lang. Also okay, sie können auch Hauptsätze in Verbindung miteinander bringen. Punkt setzen, mit Großschreibung beginnen, Verb umstellen – fertig. Eine Mecker-Zeile bei der Lesbarkeit-Überprüfung weniger.
Aber Leute, wie klingt das denn? Ist das euer Ernst?? Ich knöpfe mir Thomas Mann vor, den von mir so geliebten Satz:
Thomas Mann mit guter Lesbarkeit
“Ich ergreife in völliger Muße und Zurückgezogenheit die Feder. (9 Worte). Wer es wissen möchte, ich bin übrigens gesund. Wohl kann ich nur in kleinen Etappen und unter Ausruhen vorwärts schreiten, denn ich bin müde, aber ich schicke mich trotzdem mal an, Geständnisse aufzuschreiben. (ups, 26 Worte, Mist zu viel.) Neuer Versuch: Ich kann nur in kleinen Etappen vorwärts schreiten und muss mich auch ausruhen. Denn ich bin nicht nur müde, sondern sehr müde. Trotzdem schicke ich mich an, Geständnisse aufzuschreiben. (Yeah, der Flesch-reading-ease ist deutlich höher gegangen, noch ein paar Punkte mehr und das Gemecker verschwindet, die Ampel bewegt sich langsam zu orange)
Schreibe tue ich übrigens sauber und in gefälliger Handschrift, das ist nämlich ganz mein style. Papier ist geduldig, wie man so schön sagt, dem kann ich mich anvertrauen. Aber schon beschleicht mich ein flüchtiges Bedenken. (Ja, wohin flüchtet es denn?) Kann ich das überhaupt so hochgeistige Höhenflüge unternehmen bei der miesen Schulbildung, die ich genossen habe?”
Endlich grün – das ultimative Ziel
Die Ampel zeigt grün. Die Sätze sind kurz genug, endlich kann man, vielmehr können meine Leserinnen und Leser mich verstehen.
Aber jetzt mal ehrlich. Für wie ungebildet werden wir mittlerweile alle gehalten? Haben wir eine solch geringe Aufmerksamkeitsspanne, dass uns nicht mehr zugetraut werden kann, Sätze zu verstehen, die mehr als 20 Worte haben? Dass wir kunstvoll ineinander geschachtelte Sätze nicht kapieren und genervt das Lesen aufgeben? Wie tödlich wollen wir uns denn langweilen, wenn Bücher nur noch kurze Sätze enthalten? Verstehen wir uns überhaupt noch als Autorinnen und Autoren? Sollten wir vielleicht doch besser zum Lesen von Comics übergehen? Die überfordern uns hoffentlich nicht, jedenfalls nicht bei der Wortwahl. Wollen wir SEO, Google, Facebook, Instagram und Twitter überlassen, wie wir uns auszudrücken haben? Sind sie das Maß aller Dinge, was das korrekte Schreiben angeht?
Früher war es wenigstens noch ein Marcel Reich-Ranicki, der uns erläuterte, was gute und schlechte Literatur war. Ich gestehe, ich war nicht immer mit ihm einer Meinung, oft war er mir viel zu arrogant. Aber der Mann hatte irgendwie Stil, war unverwechselbar, war belesen, kannte sich aus. Und am allerwichtigsten: es war ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit Ecken und Kanten und Gefühlen.
Wollen wir heute alles stromlinienförmig-einförmig-unförmig-eintönig-ton-in-ton-apart schreiben? Ohne jede eigene Note?
Nichts mehr an Emotion, an Wortkreationen, an Sinnlichkeit in unserer Sprache fühl- und erlebbar machen, weil wir vor allem darauf schauen, wann die blöde Ampel grün wird und uns im Zählen von Worten verlieren? Ist das die Vorstellung von Schreiben in unserer Zeit? Damit wir gefunden werden, von so vielen Menschen wie möglich gefunden werden?
Wollen wir wirklich, dass Google uns ausspuckt für Menschen, die auf der Suche nach der schnellen Anleitung sind? Dem ultimativen Kick, dem endgültigen Tipp, wie wir reich, berühmt und schön werden?
Ich habe eine andere Sehnsucht
Also ich möchte das nicht in dieser Art. Weder möchte ich selbst so lesen müssen, noch möchte ich auf diese Art schreiben. Ich wünsche mir Austausch, ich wünsche mir Tiefe, die mich in Worten erreicht. Auch im Internet, ja selbst bei Facebook und Instagram.
Und ich wünsche mir Schönheit, auch in der Sprache. Deshalb schreibe ich. Ich möchte herausgefordert werden, ich möchte zum weinen, zum nachdenken, zum fühlen gebracht werden – durch Worte, durch Bilder, durch Gedichte.
Es fällt mir schwer, wirklich schwer. SEO hat 7 Probleme entdeckt und zeigt viel rot. Ich beschließe, diesen Artikel trotzdem genauso zu lassen. Glücklicherweise ist es ja “nur” ein persönlicher Artikel, kein Expertinnen-Artikel. Das macht es etwas leichter.
Knopf drücken – fertig.
Ach, du sprichst mir ja so aus dem Herzen!
Danke für diesen wunderbaren Artikel. Wenn ich mich das nächste Mal durch die roten Ampeln ärgern lasse, dann lese ich mir einfach nochmal deinen Artikel durch und strecke SEO und Yoast die Zunge 🙂
Wie wunderbar, Gabriella, danke für den Kommentar. Sofort kam das bekannte Bild von Einstein mit der Zunge in meinen Kopf und ich sah uns beide, die Zunge rausstreckend 🙂
Liebe Hilkea, einfach wundervoll, wie du das YOAST rot in ein persönliches grün wandelst … bleib dir weiter treu … tiefsinnige Sätze und intensiver Austausch standen bei der YOAST Programmierung vielleicht nicht im Vordergrund. Auf jeden Fall schreibst du mir aus der Seele … da gibt es so viele Übereinstimmungen miteinander. Und danke für die Anregung zum wieder BRIEFE schreiben. Meine Reha beginnt nächste Woche 😉 Postkarten hab ich schon ganz viele eingepackt, doch Briefe sind so viel schöner ;-). Liebe Grüße Umani
Ojah, was habe ich gelacht! Herrlicher Artikel, liebe Hilkea, der mir aus der Seele spricht! Ich liebe Thomas Mann und ja, auch meine teilweise verschachtelten Sätze. Ich kümmere mich einfach nicht um Yoast und halte meine LeserInnen weiterhin für fähig, längere Sätze zu lesen (und dabei auch zu verstehen!), auch, wenn die Ampel dafür rot leuchtet. Ich halte einfach Yoast für dumm. Punkt.